Blick ins Jahr 2030 - Wolfgang Jauch im Gespräch

| 2017

Die „Allianz Deutschland“ hat kürzlich auf ihrer Internetseite darauf hingewiesen, dass die ersten Babyboomer nun 60 werden. Allgemein wird darin eine große „Belastungsprobe für die Sozialsysteme“ gesehen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in den 2030er-Jahr in den Ruhestand gehen. Sie als Vorstandsvorsitzender der „Sozialstation Bodensee“ haben in einer Gesprächsrunde mit Bürgermeistern aus der Region ein neues Konzept vorgestellt. Dessen Name lautet: „Die Sozialstation Bodensee im Jahr 2030“.

Unter dem Stichwort „ambulant vor stationär“ erklären Sie, wohin der Weg der Sozialstation gehen könnte. Und Sie erläutern, dass die Generation der sogenannten „Babyboomer“ ganz andere Vorstellungen vom Leben im Alter hat, als alle bisherigen Senioren-Generationen. Wie wollen die Babyboomer denn im Alter wohnen?

Jauch: Soviel ist sicher: Die Babyboomer wollen im Alter anders leben als ihre Eltern. In dieser Generation haben die alten Rollenbilder, das alte Familienmodell – der Vater geht zur Arbeit, die Mutter bleibt zu Hause und erzieht die Kinder – schon nicht mehr durchgängig funktioniert. Hinzu kommt: Die Babyboomer haben neue Lebensformen ausprobiert – das Leben in Wohngemeinschaften. Das Bildungsniveau ist angestiegen, andererseits auch der Individualismus. Bezogen auf Leben im Alter heißt das unter anderem, dass sich die Babyboomer nicht mehr so wie ihre Eltern ins Altersheim abschieben lassen. Die sogenannte „Generation X“ und die Babyboomer – das zeigen aktuelle Umfragen – kann sich das Leben in einem klassischen Alten- oder Pflegeheim überhaupt nicht vorstellen. Eine Tendenz, die sich übrigens schon jetzt ganz deutlich abzeichnet. Auch die heutigen Senioren legen schon großen Wert aufs Altern in den eigenen vier Wänden. Unterm Strich wollen die Babyboomer keine „Seniorenwohnung“, sondern so wohnen, dass es ihren sich wandelnden Bedürfnissen gerecht wird. Für uns heißt das, wir müssen ihnen entgegenkommen, damit das Leben in dieser sogenannten „vierten Lebensphase“ gelingt. Ganz wichtig ist: Dass rund um die Uhr Sicherheit besteht – durch einen Notrufdienst vor Ort. Ebenso wichtig ist: Dass im Umfeld die nötige Infrastruktur besteht – durch die Nähe zu Ärzten, Apotheken, Pflegeteams, die am besten noch gut miteinander vernetzt sind.

Zum Teil hat die Politik den Lebensstil-Wandel der Babyboomer ja schon erkannt. Ein Blick in die Schweiz zeigt, dass man sich dort schon etwas länger mit derselben Fragestellung befasst – und reagiert. Indem zum Beispiel gezielt Angebote geschaffen werden, die auch Betagten erlauben, ihr aktives Leben fortzuführen. Hier in der Bundesrepublik gibt es auch schon erste Ansätze in Richtung Stadt-Quartiersentwicklung. Es ist auch abzusehen, dass die Kommunen neue Aufgaben in diesen Bereichen bekommen. Wie könnte das aus Ihrer Sicht aussehen?

 

Jauch: Ein wichtiger Schritt wäre, dass die Gemeinden Pflegebeauftragte benennen. Menschen, in deren Händen alle Fäden in Puncto Altenbetreuung zusammenlaufen. Menschen, die Netzwerke zur Nachbarschaftshilfe knüpfen. Vor allem aber geht es um die Beratung und Entlastung pflegender Angehöriger. Ein weiterer Wunsch wäre die Einrichtung von „Pflegehotels“. Deren Existenz könnte pflegende Angehörige kurzfristig entlasten, weil Pflegebedürftige einer Tages- oder einer Nachtbetreuung übergeben werden. Um solche Pflegehotels einzurichten, wäre vieles denkbar. Sie könnten an bestehende Einrichtungen angeschlossen werden. Sie könnten aber auch in ungenutzten Leerständen entstehen.

In Ihrem Konzept „Die Sozialstation Bodensee im Jahr 2030“ beschreiben sie die Wohnanlage „Schlosssee“ in Salem als Modell. Als ein Modell dafür, wie Menschen in den eigenen vier Wänden älter werden können. Wie funktioniert das?

Jauch: Seit anderthalb Jahren haben wir unseren Pflegestützpunkt Salem Mitte. Hier wohnen derzeit rund 300 Menschen in der Wohnanlage. Eingezogen sind vor allem Menschen aus der Region – die Nachfrage war ungeheuer hoch. Vermutlich hat sich schnell herumgesprochen, wie gut unser Pflegestützpunkt mit der hier ansässigen Apotheke, dem Arzt und einem Physiotherapeuten zusammenarbeitet. Und dann gibt es noch die enge Kooperation mit dem hiesigen Betreuungsverein. In Zukunft soll das Angebot aber ausgedehnt werden. Wenn der geplante Ergänzungsbau fertig ist, wird die Sozialstation eine kombinierte Tages- und Nachtpflege einrichten – mit einer garantierten 24-Stunden-Präsenz. Weiterhin ist eine ambulante Palliativ-Versorgung angedacht. Damit auch der allerletzte Lebensabschnitt in der eigenen Wohnung verbracht werden kann. Und ganz ähnlich der von uns in Markdorf betriebenen Demenz-WG soll auch in Salem solch ein Angebot gemacht werden. Das hilft, manche Heimunterbringung zu vermeiden.

Ihre Hoffnung ist ja, dass sich das Modell Schlosssee nicht nur auf die Gegebenheiten in Salem beschränkt, sondern auch auf andere Gemeinden übertragen lässt. Was kann eine Kommune tun, damit sich die Alterspflegekette möglichst geschmeidig an die jeweils besondere Situation vor Ort anpasst?

Jauch: Ich komme wieder auf den Pflegebeauftragten zurück. Den stellt die Gemeinde. Und wir haben so einen Ansprechpartner, sobald wir einen Pflegestützpunkt einrichten. Unsere Pflegefachkräfte würden dann Hand in Hand mit dem örtlichen Pflegebeauftragten und gegebenenfalls auch mit den vorhandenen Pflege-Arbeitskreisen zusammenarbeiten – so wie in Salem mit dem dortigen Betreuungsverein. Das Modell „Pflegehotel“ habe ich ja auch schon erwähnt. Da können sich die Kommunen ebenfalls mit geeigneten Räumlichkeiten einbringen.

Wo liegen die Vorteile für Ihre Arbeit? Schließlich stet ja auch die Sozialstation vor besonderen Herausforderungen, wenn sie weiterhin effektiv arbeiten will – in Zeiten knapper werdender Fachkräfte.

 

Jauch: Die Herausforderung, vor der wir stehen, ist: Dass von unseren derzeit 350 Mitarbeitern im Jahre 2030 rund 150 altersbedingt nicht mehr zur Verfügung stehen. Und das bei einer wachsenden Zahl von zu Pflegenden. Wir haben natürlich schon einiges unternommen, um das abzuwenden. So wurden zum Beispiel neue Ausbildungskonzepte aufgelegt. Das Problem aber bleibt. Uns wird das Personal knapp. Also müssen wir unsere Mitarbeiter entlasten. Unsere Quartierskonzepte helfen, Fahrzeiten zu vermeiden. Im Durchschnitt sitzen unsere Mitarbeiter ein Viertel ihrer gesamten Arbeitszeit am Steuer. Dann gilt es die Angehörigen noch besser einzubinden als bisher. Was nicht geht, wenn wir sie nicht gleichzeitig auch entlasten – zum Beispiel mit Erholungsphasen, durch Tages- und Nachtpflege. Und ganz wichtig: Wir wollen unsere Mitarbeiter entlasten. Ihnen Vollzeitstellen anbieten, in denen sie nicht ständig anstrengende Pflegearbeit leisten, sondern zum Beispiel nachmittags Angehörige beraten oder Koordinationsaufgaben übernehmen. Und genau das geschieht dann in unseren Pflegestützpunkten.

 Das Gespräch führte Jörg Büsche.

Sozialstation Bodenseekreis

Die „Sozialstation Bodensee e. V.“ ist eine Einrichtung zur ambulanten Alten- und Krankenpflege. Sie unterhält Stützpunkte in Markdorf, Salem, Überlingen und Stockach. Insgesamt betreuen die 350 Mitarbeiter der Sozialstation Bodenseekreis ein Versorgungsgebiet auf einer Fläche von 670 Quadratkilometern. Sie übernehmen medizinische, pflegerische und hauswirtschaftliche Leistungen. Darüber hinaus beraten sie auch Angehörige. In der Wohnanlage Salem Mitte unterhält die Sozialstation einen Pflegestützpunkt, in dem zwei Pflegekräfte pflegen und beraten.

Salem Mitte kann als Modell für ein zukunftsweisendes Quartierskonzept betrachtet werden. Weil hier ein ambulanter Ansatz gewählt ist, der das Altern in der eigenen Wohnung vorsieht. Dies durch den zielgerichteten Aufbau und das effektive Ausschöpfen einer sinnvollen Pflege-Infrastruktur in und rund um die Wohnanlage. Angehörige werden entlastet, eine Notfallhilfe ist eingerichtet. Geplant sind eine Tages- und Nachtpflege, eine 24-Stunden-Präsenz von Fachkräften, außerdem ein Netzwerk zur Palliativ-Versorgung. Denkbar ist auch eine Demenz-WG.

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Vorstandsvorsitzender Wolfgang Jauch (links) im Interview mit Südkurier-Mitarbeiter Jörg Büsche